Wer eine Kerze trägt…

Der Monat November ist doch immer wieder Überraschungen gut. Vor vier Wochen ließ ich die Reifen wechseln und stellte mich ein auf Düsternis, Kälte und monochrome Szenen. Statt dessen leuchtet die Natur ausdauernd und schön wie selten zuvor, und die Temperaturen sind höher als im letzten Sommer in Island.

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Kein Wunder also, dass ich zur Zeit überdurchschnittlich viel draußen bin.
So auch am vergangenen Wochenende, als vielleicht einige von euch hier einen Beitrag zum Mauerfall-Jubiläum erwartet hatten.

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Na ja… aber für mich ist es das höchste, an so einem Tag genau das zu machen, wobei ich die Gefühle von Dankbarkeit und Freude am besten empfinden kann: In die Berge zu wandern und auf eine kurze Stippvisite ins Österreiche rein, um an der Tankstelle mal schnell ein Bier zu holen. Noch immer macht mir dieses für die meisten völlig gewöhnliche Tun das Herz warm. Dass das alles so normal werden konnte – darin liegt für mich auch nach 25 Jahren noch das Besondere.

Und hätte ich es vergessen, wäre das Bewusstsein spätestens beim Auftritt von Wolf Bierman am 7. November im Bundestag wieder erwacht.

Wer hätte das gedacht!  Nach all den Jahren holen sie den alten Querdenker und Rausposauner in die hochheiligen Hallen – so etwas kann wohl nur einem westfälischen Dickkopf einfallen. Die Minuten sind dann so abgelaufen, wie es zu erwarten war: Der Liedermacher fernab jeglicher bundestäglicher Disziplin, die Angeredeten in einer Mischung von (auch) generationsbedingter „wir verstehen gar nicht, was der da will“ und scheinbar ignorierend, frustgeschüttelt hin und her rutschend sowie einem Journalismus, der auf den großen Eklat wartete und nur einen „elenden Rest“ gezeigt bekam. Aber den kennen wir ja schon bzw. wir wissen, wer da in neuen Kleidern „will, aber nicht kann“, weil gute Theorien noch lange keine gute Praxis bedeuten. Weil der Mensch halt ein Mensch ist.
Biermann war und ist in der Beliebtheit so umstritten, wie sein Einfluss auf die Kunstszene und wegen deren Relevanz auch auf die DDR-Entwicklung unumstritten ist –  deshalb finde ich diese Einladung großartig – sie steht in mehrerlei Hinsicht für die Möglichkeit zum Anderssein, welche in diesem Land möglich ist. Auch wenn das oft in Abrede gestellt wird. Und aus meiner Sicht hat Wolf Biermann die Ehre als Künstler wie als Mensch, der es sich und anderen nie einfach gemacht hat, verdient.

Natürlich haben die Momente seines Auftritts viele Erinnerungen in mir wachgerufen, die ein Eigenleben bekamen und ich überlegte, ob ich sie endlich mal für einen Beitrag auf dieser Seite in Worte fassen sollte. Aber das würde eine hoch emotionale Sache, weil ich dann nicht nur über die Freude über die Umwälzung schreiben würde, sondern auch über das Zuvor und das Während. Und das würde hier den (Themen-)Rahmen sprengen.

Also dachte ich: mache ich es doch auf Biermann-Art: anders! Und so lief die Nicht-Religiöse, für deren katholische Taufe nach Meinung eines Pfarrers er einen C-Schlauch von der Feuerwehr benötigen würde, nach Nussdorf und lief Richtung Heuberg, unterbrochen von vielen und langen Stopps auf dem Weg zur Wallfahrtskirche und Einsiedelei Kirchwald. Auch wenn ich kein Fan der Institution Kirche bin: für vieles, was ihre Vertreter tun, bringe ich ihnen und ihr Respekt entgegen. Und was den 9. November 1989 und die Wochen zuvor betrifft, so sind die Berührungspunkte bekanntlich zahlreich.

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Im wunderschönen Kirchlein Mariä Heimsuchung zündete ich ein paar Kerzen als Zeichen der Dankbarkeit an. Ich glaube, dem lieben Gott ist es nicht vordergründig wichtig, WEM die Dankbarkeit gilt. Wenn es ihn gibt, dann wird ihm das Gefühl wichtiger sein als die Adresse.

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Und schließlich hat doch auch vieles mit den Kerzen angefangen, in Leipzig. Mit Kerzen, die beschützt werden wollen, so dass derjenige, der sie trägt, keinen Stein werfen kann.

Ich weiß seit 1989 um die ganze große Kraft der Kerzen, hatte ich doch mein Büro wenige Meter neben der Nikolaikirche, beobachtete am 2. Oktober und vor allem während der Tagesstunden des 9. Oktober den wahnwitzigen Aufmarsch potentieller Gewalt, erlebte einen Vorgesetzten, der mich einige Jahre zuvor mit großer Offenheit eingestellt hatte, obwohl man mich, wie er beschrieb, als „politisch ungefestigt auf dem Serviertablett“ umher gereicht hatte.
Jetzt gab er sich wild entschlossen, die „Revolution“ zu verteidigen. Jetzt waren eine Kollegin und ich das „neutrale Gesindel“, welches es nicht einmal fertigbrachte, einer dritten Kollegin zu erklären, dass eine weitere Zusammenarbeit mit ihr wegen ihres Ausreiseantrags nicht mehr „gewünscht“ wäre. Ich glaube, er ahnte ganz genau, dass selbst Neutralität nicht mehr von mir zu erwarten war, selbst wenn ihm Einzelheiten verborgen geblieben waren. Spätestens als Chinas Kommunisten im Juni auf dem Tian’anmen-Platz Gewalt gegen protestierende Studenten walten ließen und ich daraufhin aus allen gesellschaftlichen Organisationen austrat, war ich endgültig als Instrument des Sozialismus-Experiments unbrauchbar geworden.

In dieser Situation war der 9. November tatsächlich ein unfassbares Wunder. Der Zusammenbruch war lange erwartet, nicht aber sein friedvoller Ausgang. Der Beständigkeit der Entwicklung nicht trauend, begannen wir unverzüglich mit den Vorbereitungen für den Weggang unserer kleinen Familie. Einer von uns vieren ist inzwischen nach Australien weitergezogen, wir drei anderen haben hier neue Heimat und Frieden gefunden. Oder wie Reiner Kunze nach seiner Umsiedlung nach Bayern schrieb: „ich finde den lichtschalter schon im dunkeln“.

Kirchwald war letzte Woche übrigens nicht von ungefähr meine Wahl. Die Einsiedelei steht für vieles, was mir sympatisch ist. Das reicht von ihren beinahe ökumenischen Wurzeln (siehe hier die schöne Legende auf „sagen.at„) über die dort gelebte Kontemplation bis zur aktiven Anteilnahme des letzten Einsiedlers am gesellschaftlichen Leben von Nussdorf. Auch strahlen die Bilder auf den Wegkreuzen etwas Milderes und Positiveres aus, als man es anderswo vorfindet. Hier ahnt man etwas von der Kraft, welche Gläubige aus dem Anblick der Tafeln schöpfen können. Wenn es doch auch gelänge, die vielen Barrieren zu reduzieren!

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